BrennernordzulaufVerkehrspolitik

Trotz freier Kapazität auf der Bestandsstrecke keine Verlagerung des Güterverkehrs. Leserbriefe

Leserbriefe zur Stellungnahme von Dieter Kempf „Vorfahrt für den längsten Eisenbahntunnel der Welt“, erschienen am 18.12.2020 und 19.12.2020 in der Süddeutschen Zeitung. Von Dr. Frieder Storandt und Dr. Willi Messing

Der scheidende Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) Dieter Kempf preist den zügigen Baufortschritt beim Brennerbasistunnel (BBT). Offenbar ist ihm völlig entgangen, dass die als Bauherr fungierende BBT SE im Oktober den Vertrag mit der bauausführenden Arge H51 um den Baukonzern Porr gekündigt hat. Daher findet laut der österreichischen Tageszeitung „Kurier“ gegenwärtig im Abschnitt Pfons-Brenner ein Rückbau der gesamten Baustelleneinrichtung und Tunnelinfrastruktur statt, der bis mindestens August 2021 dauern wird; projektbezogenes Baumaterial, vor allem energieintensiv erzeugter maßgeschneiderter Baustahl, muss nun verschrottet werden.

Die ohnehin schöngefärbte Klimabilanz dieses Prestigeprojektes wird sich dadurch weiter verschlechtern. Neuausschreibung und -vergabe des betroffenen Bauabschnitts werden die zuletzt für 2030 anvisierte Fertigstellung des BBT vermutlich um Jahre verzögern. Ungeachtet dessen fordert Herr Kempf unter Hinweis auf das Gemeinwohl zusätzliche Gleise für den Nordzulauf und eine Planungsbeschleunigung. Alle fünf Trassenvorschläge der Bahn stoßen jedoch in der Region bei Politik und Bevölkerung insbesondere deshalb auf breite Ablehnung (untermauert durch 30000 Stellungnahmen im laufenden Raumordnungsverfahren), weil ein eindeutiger Bedarfsnachweis nach wie vor fehlt.

Die Bestandsstrecke ist gegenwärtig trotz Halbierung der Trassenpreise (Schienenmaut)  bei Weitem nicht ausgelastet. Ginge es dem BDI-Chef wirklich um eine zügige Verlagerung der Gütertransporte von der Straße auf die Schiene mit Eindämmung des Umwegverkehrs, müsste er konsequenterweise vom Bundesverkehrsminister die längst fällige Erhöhung der LKW-Maut am Brenner-Korridor auf Schweizer Niveau verlangen. Stattdessen aber soll das Pferd von hinten aufgezäumt werden mit einer neuen Hochgeschwindigkeitstrasse, die zudem für den Mischbetrieb von schnellem Personenfernverkehr und langsamem Güterverkehr ungeeignet ist.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Frieder Storandt

83115 Neubeuern

Leserbrief zum Artikel: „Vorfahrt für den Brenner-Tunnel“  vom 19.Dez 2020 Süddeutsche Zeitung. Von Dr. Willi Messing.

Herr Kempf geht bei seiner Analyse von falschen Annahmen aus: es sind nicht die Umweltverbände, die eine Verlagerung von Gütern auf die Schiene verhindern. Sondern es ist die Verkehrspolitik vieler Jahrzehnte, die dafür gesorgt hat, dass  der Güterverkehr immer weiter auf die Straße verlagert wurde. Auch der Bundesverband der Industrie war an dieser Politik massgeblich beteiligt. Noch Anfang der 70er Jahre lag der Güteranteil auf der Schiene noch bei über 50%, heute liegt er bei unter 30% (auf der Brennerachse, gemessen in t). Seit mehr als zehn Jahren stagniert der Transport von Gütern auf der Bahn auf dem Niveau von 2010 zwischen 90 und 100 Güterzügen pro Tag im bayrischen Inntal. Währenddessen hat das LKW Aufkommen über den Brenner deutlich zugenommen, von 1,7 Mio auf über 2,2 Mio LKW pro Jahr. Es liegt sicher nicht an der Kapazität der Bahninfrastruktur, dass die Verlagerung auf die Schiene nicht vorangeht, sondern an den insbesondere in Deutschland begünstigten LKW Transporten, die nach der Liberalisierung in den 90er Jahren diese Transportart unschlagbar billig machte. Parallel dazu wurde der Ausbau der Bahn massiv gebremst. Solange sich das nicht deutlich ändert kann man sich mit dem Ausbau der Infrastruktur für den Güterverkehr auf der Bahn noch viel Zeit lassen. Auch im Brennerzulauf ließe sich das Zugaufkommen auf den Schienen  noch um 20-30% steigern. Wenn man nach „visionären Projekten“ sucht ist ein Blick in die Schweiz angeraten: dort hat man die verkehrspolitischen Randbedingungen und Preise zu Gunsten der gewünschten Verkehrsart massiv geändert und begleitend dazu die Infrastruktur ausgebaut. Heute liegt dort der Anteil der Güter auf der Bahn bei 70%.

Viele Grüße
Dr.Willi Messing
Bad Aibling